In einer kleinen Wohnanlage im beschaulichen Köln-Sülz hat sich ein merkwürdiges Phänomen etabliert: Ein Wettbewerb, der das Herzstück des modernen Gemeinschaftslebens in Frage stellt – wer bringt die Mülltonne zur Straße? Oder besser: Wer bringt sie nicht?
Es begann harmlos genug. Frau Schmitz aus dem Erdgeschoss hatte es satt, zum x-ten Mal die Tonne nach draußen zu karren. „Warum immer ich?“, fragte sie in die Runde der WhatsApp-Gruppe der Hausgemeinschaft, wohl wissend, dass die Antwort nur Schweigen sein würde. Doch statt einer Diskussion entfachte sie unbeabsichtigt einen Wettstreit.
Die ersten Tage vergingen ohne großen Aufruhr. Herr Meier aus dem dritten Stock kommentierte lakonisch: „Mal sehen, wie lange es dauert, bis sie platzt.“ Was zunächst als sarkastische Bemerkung gedacht war, entwickelte sich zum inoffiziellen Motto des Hauses. Von da an begann ein Spiel der Vermeidung, das seinesgleichen sucht.
Drei Monate ohne Bewegung – und ein neuer Rekord
Die Tonne, liebevoll „Karl-Heinz“ getauft, stand starr wie ein Mahnmal des kollektiven Scheiterns im Hinterhof. Nachbarn, die sonst zu Tratsch und Smalltalk neigten, wichen den Blicken der anderen aus. Wer zu lange stehen blieb, riskierte, als Freiwilliger abgestempelt zu werden.
Für den bisherigen Rekordhalter, Herrn Müller aus dem Dachgeschoss, ist das eine Frage der Ehre. „Drei Monate und zwei Tage“, verkündete er stolz beim letzten Hausgemeinschaftstreffen, das passenderweise auf dem Parkplatz stattfand, da der Hof mittlerweile unerreichbar war. „Das erfordert Planung, Strategie und vor allem absolute Sturheit.“
Die Opfer des Wettbewerbs
Doch der Wettbewerb fordert seine Opfer. Der Müll stapelt sich inzwischen bis an die Fenster. Frau Schmitz berichtete kürzlich, dass sie ihre Küche nur noch mit einer Atemschutzmaske betritt. Herr Meier hingegen hat eine kreative Lösung gefunden: Er presst seinen Müll inzwischen in den Altglascontainer, sehr zur Freude der Nachbarschaft.
„Es ist eine Frage des Prinzips“, erklärt Frau Huber, die sich als Wettkampfrichterin selbst ernannt hat. Sie dokumentiert jede noch so kleine Bewegung der Tonne akribisch. „Wir müssen Standards setzen. Wenn hier jeder einfach machen würde, was er will, wo bliebe dann die Ordnung?“
Der Weg zur Legende
Die Bewohner sind sich einig: Es geht nicht mehr nur um die Tonne. Es geht um Stolz, Prinzipien und die Frage, wer zuerst nachgibt. Ein Gerücht besagt, dass Herr Müller heimlich einen Pakt mit der benachbarten Reinigungskraft geschlossen hat. Doch Beweise gibt es bisher keine.
Das Haus ist mittlerweile zu einer Touristenattraktion geworden. Menschen kommen von nah und fern, um „Karl-Heinz“ und seine unerschütterlichen Mitbewohner zu bestaunen. Ein Start-up aus der Nachbarschaft bietet bereits Führungen an.
Ein Ende ist nicht in Sicht
„Wir leben in einer Zeit, in der niemand mehr Verantwortung übernehmen will“, klagt Frau Schmitz. Doch Herr Müller kontert: „Das hier ist kein Scheitern, das ist Kunst.“ Die Fronten sind verhärtet, die Tonne bleibt stehen. Vielleicht für immer.
Ob der Wettbewerb je ein Ende finden wird, bleibt ungewiss. Sicher ist jedoch eines: Karl-Heinz ist längst mehr als nur eine Mülltonne. Er ist Symbol, Mythos und Mahnmal zugleich – und vielleicht das einzige in Köln, das wirklich niemand bewegen kann.